Sonntag, 18. Juni 2017

Unwissend

Es war das erste Mal gewesen, dass ich meinem Bruder nicht dankbar dafür war, dass er mir das Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Ich wünschte mir sehnsüchtig, dass ich kein einzelnes Wort von all dem lesen konnte.

Aber ich konnte es lesen, weil er es mir beigebracht hatte. Und jetzt starrte ich erschüttert diese Meldung an, die heute morgen eine der Wachen des Hohepriesters, unserem Herrscher, an die Tafel gehängt hatte. Hier hingen eigentlich immer nur schlechte Nachrichten, manchmal einfach nur tragisch schlechte Nachrichten und manchmal einfach nur abgrundtief schlechte Nachrichten.

Diese Nachricht jedoch war anders. Anders für mich. Sie erklärte mich quasi vogelfrei.
Langsam lies ich meinen Blick streifen. Hatte hier jemand schon diese Nachricht gelesen? Wenn ja, dann hatte ich kaum noch Zeit für die Flucht. Sie würden über mich herfallen und mir wer-weiß-was antun, nur um mich dann der Wache auszuliefern. Diese würden mich foltern und quälen um herauszufinden wo mein Bruder sich versteckte. Dennoch würden all ihre Versuche an Informationen zu kommen scheitern. Nicht weil ich glaubte, ihre Folter ertragen zu können. Oh nein! Ich konnte ihnen nichts sagen, denn ich wusste nichts. Das hatte er unserem Vater schwören müssen. Er durfte mir nichts sagen, dass mich in den Ärger mit reinziehen konnte.

Mein Bruder hatte sich strikt an seinen Schwur gehalten. Nichts hatte er mir erzählt! Nicht einmal, dass er sich dem Widerstand angeschlossen hatte. Ich hatte es ganz zufällig mitangehört, weil ich nachts aufgewacht war, wieder einer dieser schrecklichen Albträume, die mich quälten, seit ich ein kleines Mädchen war. Da war ich aufgestanden und wollte zu meinem Bruder ins Bett, wie ich es immer tat, aber sein Bett war leer und ich hörte ein leises Flüstern aus dem Zimmer nebenan. Leise schlich ich an die Tür und öffnete sie einen Spalt, um die Personen zu belauschen. Da hatte ich dann gehört, wie mein Bruder von meiner Großmutter zusammen gefaltet wurde, weil ihr es absolut nicht gefiel, dass sich mein Bruder dem Widerstand angeschlossen hatte.
Jetzt stand ich hier vor der Tafel und starrte auf das Plakat mit meinem Gesicht darauf. Ich zog mir schnell meine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und rannte davon. Rannte und rannte so schnell ich nur konnte und so weit mich meine Füße trugen.

Im Wald stolperte ich, stürzte so hart mit dem Kopf auf eine Baumwurzel, dass ich das Bewusstsein verlor. Doch ehe ich in die Dunkelheit gesogen wurde, sah ich die Silhouette eines Mannes, die mich behutsam hochhob. Dann war alles weg...